Zum 75-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes

Wie das Grundgesetz im Jahr 2005 seine Gültigkeit als ranghöchstes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland zu verlieren drohte.

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Im Jahr 2005 stand Europa vor einer historischen Entscheidung: der Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa (Vertrag). Der Entwurf dieses Vertrags mag zwar zum Ziel gehabt haben, die europäische Union (EU) effizienter und demokratischer zu gestalten, hierzulande hätte die Ratifikation des Vertrags jedoch tiefgreifende Auswirkungen auf das Ver­hält­nis der Bundesbürger zur Bundes­republik Deutschland und zur EU gehabt. Bundestag und Bundesrat hatten das Zustimmungsgesetz zum Vertrag bereits verabschiedet. Hätte der Bundespräsident den Vertrag daraufhin ratifiziert, hätte das Recht der Europäischen Union (Unions­recht) Vorrang vor dem Grundgesetz erlangen können und das Grundgesetz hätte seine Gültigkeit als ranghöchstes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland verlieren können.

Schon vor 2005 habe, so wird behauptet, der Europäische Gerichtshof (EuGH) dem Unionsrecht Vorrang vor nationalem Recht der Mitgliedsländer eingeräumt. Der Vertrag habe diesen Vorrang des Unionsrechts weiter festigen und explizit in einem Verfassungsvertrag verankern sollen. Tatsache ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dies anders sieht und nach seiner Auffassung das Grundgesetz hierzulande Vorrang vor dem Recht der Europäischen Gemeinschaften (Gemeinschafts­recht), heute Unionsrecht, hat. Dies kommt insbesondere in einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 1986 (Solange II-Entscheidung) zum Ausdruck. Auch die Tatsache, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa vom Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht ratifiziert wurde, belegt, dass das Grundgesetz Vorrang vor dem Unionsrecht hat. 

Die Solange II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Im Jahre 1986 entschied das BVerG in der Angelegenheit eines Importeurs von Champignon­konserven (Beschwerde­führer) über dessen Verfassungs­beschwer­de gegen eine Einfuhrbe­schränkung des Vorläufers der EU, der Europäischen Gemein­schaften (EG) über die Frage, ob es weiter Gemeinschaftsrecht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes prüfen wird.

Der Beschwerdeführer hatte beklagt, durch eine Einfuhrbeschränkung der EG in seinen Grund­rechten auf Berufsfreiheit (Art 12 Abs. 1 Satz 1 GG) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art 2 Abs. 1 GG) verletzt zu sein. Da Grundrechte Abwehrrechte gegen den Staat sind, hier aber nicht die Bundes­republik Deutschland die Freiheit des Beschwerde­führers beschränkte, sondern die EG, hatte sich die Frage gestellt, ob dieser Fall der Gerichtsbarkeit des BVerfG unterliegt.

Dass dieser Fall der Gerichtsbarkeit des BVerfG unterliegt, belegt die Formulierung der Entschei­dung des BVerfG: 

"Solange die Europäischen Gemeinschaften ... einen wirksamen Schutz der Grundrechte ... gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechts­schutz im wesentlichen gleichzuachten ist, ... , wird das Bundesverfassungs­gericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwend­barkeit von ... Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; ... ."

Das BVerfG spricht hier ausdrücklich von seiner Gerichtsbarkeit. Es erklärt darüber hinaus, dass es diese seine Gerichtsbarkeit (nur) nicht ausüben wird, solange die EG einen wirksamen Schutz der Grundrechte gewährleistet, der jenem Grundrechts­schutz im wesentlichen gleichzuachten ist, der vom Grundgesetz unabdingbar geboten ist (adäquater Grundrechtsschutz). 

Sicher, die Entscheidung eines Verfassungs­gerichts, es werde seine Gerichtsbarkeit nicht mehr ausüben, wirft die Frage auf, ob das Verfassungs­gericht angesichts seines verfassungsmäßigen Auftrags, Hüter der Grundrechte zu sein (Art 93 Abs. I Zi. 4a. GG), so entscheiden durfte. Es wirft weiter die Frage auf, ob der Souverän der Bundesrepublik Deutschland, das deutsche Volk (Art 146 GG), jene stillschweigende Vereinbarung eines jeden mit einem jeden verletzt, auf welcher der Staat beruht, den Gesellschafts­vertrag. Darf der Souverän eine Verfassung geben, die eine solche Entscheidung zulässt? Aber davon einmal abgesehen hält die Solange II-Entscheidung immerhin die Tür offen, Gemeinschaftsrecht, heute Unionsrecht, vom BVerfG am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen zu lassen, wenn behauptet werden kann, der EuGH gewährleiste keinen adäquaten Grund­rechts­schutz mehr. 

Im Falle, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert worden wäre, hätte dies für die Bundesrepublik Deutsch­land bedeutet, dass das Grundgesetz bei Konflikten mit dem Unionsrecht in den von der EU-Verfassung geregelten Bereichen nachrangig geworden wäre (Artikel I-6 des Vertragsentwurfs). Die vom Bundesver­fassungsgericht in seiner Solange II-Ent­scheidung offen gehaltene Tür, wäre vom Bundespräsidenten verschlossen worden.

Die Weigerung des Bundespräsidenten, den Vertrag über eine Verfassung für Europa zu ratifizieren

Vor der Abstimmung in Bundestag und Bundesrat im Jahr 2005 erklärte der Bundespräsident, er wolle den Vertrag über eine Verfassung für Europa zügig ratifizieren, nachdem das Zustimmungsge­setz von Bundestag und Bundesrat verabschiedet ist. Nach der Verabschiedung des Zustimmungsge­setzes durch Bundestag und Bundesrat erklärte der Bundespräsident aber, er werde den Vertrag so lange nicht ratifizieren, bis das Bundesverfassungs­gericht über Verfassungsbeschwerden entschieden hat, die inzwischen bei diesem anhängig geworden waren. 

Zumindest eine dieser Verfassungs­beschwerden stützte sich u. a. auf die Behauptung, der Beschwerde­führer werde in seinem Grundrecht auf Gleich­behandlung verletzt, weil das Grundgesetz im Falle einer Ratifikation des Vertrages seine Gültigkeit als ranghöchstes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland verliert, ohne dass er als Bürger der Bundesrepublik Deutschland an der Abstimmung darüber teilnehmen durfte (Art 3 Abs. 1 i. V. m. Art 146 GG). Dieser Beschwerdeführer berief sich hierbei darauf, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit als ranghöchstes Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland erst an dem Tag verlieren darf, an welchem eine Verfassung in Kraft tritt, die vom deutschen Volke beschlossen worden ist (Art 146 GG).

Wenn der Präsident der Bundesrepublik Deutsch­land mit Rücksicht auf die Verfassungs­beschwerden eine Ratifikation des Vertrages verweigerte, dann muss dies so verstanden werden, dass die Bundesrepublik Deutschland dem Vertrag auch deshalb nicht zustimmte, weil mit ihrer Zustimmung Unionsrecht Vorrang vor dem Grundgesetz erlangt hätte. Demzufolge kann aus Sicht der Bundesrepublik Deutschland ein Prinzip des Vorrangs von Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht vor nationalem Recht nicht schon vor dem Jahr 2005 gegolten haben, insoweit hiervon nationales Verfassungs­recht betroffen ist.

Aus dem Umstand, dass der Vertrag bis heute nicht ratifiziert ist muss geschlossen werden, dass das Grundgesetz auch heute noch das hierzulande geltende höchstrangige Gesetz ist.


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